Was sind Grenzgebiete der Wissenschaft?
© copyright Marco Bischof (November 2000)

Stichworte
Grenzgebiete der Wissenschaft, unkonventionelle Wissenschaft, Anomalistik, Anomalien, Innovation, Parawissenschaft, Pseudowissenschaft, wissenschaftliche Häresie, Paradigmenwechsel, Außenseiter, Wissenschaft der Zukunft, Wissenschaftskrieg, frontier sciences, unconventional science, heterodox science, marginal science, rejected knowledge, anomalies, parascience, science wars.


Definitionen

Ein brauchbarer erster Ansatz zu einer Definition stammt von dem in Dänemark tätigen englischen Physiker Scott Hill. Er definiert Grenzgebiete der Wissenschaft (GW) als

"Gebiete der Wissenschaft zwischen Schulwissenschaft und Pseudowissenschaft, auf denen aus theoretischen oder praktischen (experimentellen) Gründen nur spärliches Wissen existiert. Zu einer späteren Zeit, wenn vielleicht die technologischen Möglichkeiten besser geworden sind, kann ein solcher voreilig als Randgebiet oder Sackgasse eingestufter Wissenschaftsbereich zu einer Hauptwissenschaft werden" (Hill 1985).

In der englischen Sprache wird in der Regel der Begriff "Frontier Sciences" verwendet, der anzeigt, dass es sich um jene Gebiete am Rande der Wissenschaft handelt, die unter Umständen auch zu jenen werden können, die an vorderster Front der Wissenschaft tätig sind (Rubik 1996). Es sind jene zumeist umstrittenen Gebiete, deren wissenschaftlicher Status noch offen ist – eine Grauzone zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft, in der noch nicht entschieden ist, ob etwas ein möglicher Ansatz zukünftiger wissenschaftlicher Entwicklungen oder als "Pseudowissenschaft", "Aberglaube" usw. bewertet werden soll. Die wissenschaftlichen Grenzgebiete zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie Fragen untersuchen, die von der herrschenden Wissenschaft vernachlässigt werden, die teilweise das herrschende Weltbild in Frage stellen und die Frage seiner Vollständigkeit aufwerfen.

Im Herzen der GW steht die sogenannte "Anomalistik" – die die "Anomalien", d. h. jene vielen paradoxen, teils mehr, teils weniger gesicherten Beobachtungen sammelt und untersucht, die nicht in die herrschenden wissenschaftlichen Theorien hineinpassen, oder zumindest nicht mit den geläufigen Vorstellungen des durchschnittlichen Wissenschaftlers vereinbar sind (Rubik 1996). Es gibt unzählige dieser Phänomene, die denjenigen, die die Wissenschaft gerne als ein logisch-deduktiv aufgebautes Lehrgebäude sehen, zumeist peinlich sind, insbesondere, wenn dadurch ein Grundpfeiler des scheinbar unerschütterlichen Lehrgebäudes ins Wanken gerät. Deshalb lässt man sie in der Regel unter den Tisch fallen; sie werden an den Universitäten kaum erwähnt und kommen in der Regel auch nicht in Lehrbüchern vor. Um das heutige Fachwissen möglichst unbefleckt erscheinen zu lassen, wird sogar der Eindruck vermittelt, als hätten solche Anomalien nur in der Vergangenheit eine Rolle gespielt (Tennenbaum 1992).

Zu den Pionieren der Anomalistik gehören der amerikanische Amateurforscher Charles H. Fort (1874-1932), der damit begann, solche in der wissenschaftlichen Fachliteratur publizierten Anomalien zu sammeln und zu veröffentlichen, und der Physiker William R. Corliss (1926-2011), der mit seinem "Sourcebook Project" diese Sammeltätigkeit fortsetzte und in seiner 25jährigen Durchforstung der wissenschaftlichen Weltliteratur rund 1000 solche Anomalien identifizieren konnte (Pauwels & Bergier 1962; Fort 1974; Corliss 1983; Kaplan 1991; Corliss 1994; Magin 1997; Kripal 2010).


Die Bedeutung der wissenschaftlichen Grenzgebiete

Wissenschaft ist niemals ein monolithisches Gebilde, in dem zu allen Themen ein vollständiger Konsens herrscht. Vielmehr gibt es in jedem Fachbereich unterschiedliche Strömungen und Schulen mit unterschiedlichem weltanschaulichem Hintergrund – "Denkkollektive" mit bestimmten "Denkstilen" (Fleck 1935). So gibt es bereits innerhalb der Wissenschaft Gruppen, die ihre eigenen Methoden, Resultate und Theorien als "echtere" Wissenschaft betrachten als diejenigen anderer Gruppen; man denke an die heutige Unterscheidung zwischen "hard science" und "soft science", an Irving Langmuirs Angriff gegen "pathological science" (Langmuir 1989) oder an den amerikanischen "Wissenschaftskrieg" gegen die Geisteswissenschaften (Bischof 1998).

Wissenschaft ist zudem keine feste Größe, sondern in ständiger Veränderung begriffen. Die Grenzen dessen, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als zu ihrem Bereich gehörend anerkannt wird, sind unscharf und fließend, wenn auch nicht immer in gleichem Maße. Gesamtgesellschaftlich gesehen, gibt es zu jeder Zeit eine dominante Strömung, um die herum sich das anordnet, was als Wissenschaft mehr oder weniger akzeptiert wird, und eine oder mehrere Unterströmungen von "rejected knowledge" (Wallis 1979), wo jener Bereich menschlichen Wissens lebendig bleibt, der gerade nicht für die tonangebenden Gruppen als Leitwissen dient. Zwischen dem, was in einer bestimmten Epoche als unwissenschaftlich gilt, wie heute Volksmedizin, "Aberglauben", "Pseudowissenschaft", "Esoterik" usw., und der Wissenschaft gibt es jedoch immer "kommunizierende Röhren", in denen in beiden Richtungen Kulturgut ausgetauscht wird. Alle solchen dominanten und Unterströmungen haben ihre Ebbe und ihre Flut; untergetauchtes subkulturelles Wissen kann periodisch wieder auftauchen und in die dominante Strömung einmünden oder gar selbst zu ihr werden.

Die GW haben in letzter Zeit eine zunehmende gesellschaftliche Bedeutung erhalten. Im beginnenden einundzwanzigsten Jahrhundert befinden wir uns in einer Übergangsphase zwischen zwei herrschenden wissenschaftlichen Paradigmen. Infolgedessen ist die Abgrenzung des Geltungsbereichs der Wissenschaft ganz besonders unklar und unscharf, und die Grenze besonders durchlässig geworden. Angesichts der immer offensichtlicher werdenden Notwendigkeit einer Neuorientierung und Erneuerung wird heute der Auseinandersetzung mit den Grenzgebieten der Wissenschaft, die natürlich von Einzelpersonen immer betrieben worden ist, eine verstärkte Aufmerksamkeit zugewendet. Die GW finden vermehrt Anerkennung als Reserve für Erneuerung und Innovation. (Diesen Zusammenhang untersucht der Aufsatz "Wissenschaftliche und technische Innovation und wissenschaftliche Grenzgebiete" genauer).

Um die in den GW verborgenen Schätze zu heben und für Wissenschaft und Gesellschaft fruchtbar zu machen, müssen jedoch eine Reihe von Schwierigkeiten überwunden werden. Da das in den GW enthaltene Wissen sich oft lange Zeit vom kulturellen und wissenschaftlichen "Mainstream" abgekoppelt entwickelt hat, ist es dort oft in degradierter, verkümmerter Form vorhanden, was wiederum zu seiner Geringschätzung und Nichterkennung beiträgt. Das als "Dreck" erscheinende "Gold" muss erkannt, gereinigt und geborgen werden. Zu diesem Zweck muss es in erster Linie wieder in Bezug zu geläufigen Denkvorstellungen, vor allem zum wissenschaftlichen Denken gebracht werden. Das Heben dieser Schätze kann weder mit der Leichtgläubigkeit der "Esoterik"-Szene, noch mit der sterilen Ablehnung derjenigen glücken, die sich "Skeptiker" nennen, ohne solche im ursprünglichen Sinne des Wortes zu sein. Der schwierige Mittelweg zwischen diesen Extremen muss durch eine Haltung der skeptischen Offenheit gekennzeichnet sein, die keines der grenzwissenschaftlichen Phänomene zum vornherein ablehnt, sie aber kritisch untersucht. Selbst wenn ein solches Gebiet der GW sich als Sackgasse im wissenschaftlichen Sinne herausstellen sollte, ist es auf jeden Fall auch als kulturelles und soziales Phänomen noch interessant und kann man noch etwas lernen davon. Auf der anderen Seite darf die Auseinandersetzung mit den GW nicht auf der Grundlage einer unkritischen Akzeptanz und Wissenschaftsfeindlichkeit geführt werden, sondern muss die gründliche Prüfung durch Methoden auf dem Stand des modernen Wissens als Ausgangspunkt nehmen. Allerdings sollte auch geprüft werden, ob diese Methoden geeignet und ausreichend sind, das Phänomen zu beurteilen, und der unabgeschlossene Charakter und die Grenzen der gegenwärtigen Wissenschaft und ihrer Methoden müssen berücksichtigt werden. Aus negativen Resultaten solcher Untersuchungen sollte nicht vorschnell auf die Nichtexistenz eines Phänomens geschlossen werden, sondern die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass die Wissenschaft weiterentwickelt werden muss, um dem Phänomen gerecht zu werden.

Eine zunehmende Zahl von Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Vereinigungen hat in den letzten paar Jahrzehnten die Untersuchung solcher Anomalien und wissenschaftlicher Grenzgebiete in diesem Sinne in Angriff genommen, und es gibt auch eine Reihe von Publikationen, die sich diesem Thema widmen.

Teilweise gehen die Forderungen nach einer Weiterentwicklung und Erweiterung der Wissenschaft sehr weit und sind ganz fundamentaler Natur. Sie erscheint einer wachsenden Zahl von Wissenschaftlern nämlich nicht zuletzt deshalb als notwendig, weil die moderne Naturwissenschaft von einem sehr eingeschränkten Realitätsbegriff ausgeht, der durch sukzessive Reduktion ihrer Untersuchungsgegenstände auf sinnlich Wahrnehmbares und Messbares entstanden ist. Das zunächst nur als nicht untersuchbar Ausgeschlossene geriet im Lauf der Jahrhunderte immer mehr aus dem Blickfeld, bis es schließlich als nicht existent bewertet wurde.

Deshalb betrachten einige Wissenschaftler das Fehlen einer spirituellen Perspektive und Transzendenzoffenheit als einer der gravierendsten und grundlegendsten Mängel des bisherigen wissenschaftlichen Weltbildes. Sie fordern eine Erweiterung des wissenschaftlichen Weltbildes durch die ausgeschlossenen Realitätsebenen des Subjektiven, Nichtmateriellen, Seelischen, Geistigen, Spirituellen usw. (siehe z.B. Ravindra, 1991, Harman & Clark, 1994; Goswami, 1995; Lorimer, 1998; Jahn & Dunne, 1997, 1999). Die Wissenschaft ist aufgerufen, für diese Bereiche geeignete wissenschaftliche Methoden zu entwickeln. Auch hier kann sie auf die GW und auf das mit ihnen korrespondierende, durch die Globalisierung aus nichtwestlichen Kulturen einströmende Wissen zurückgreifen (Ravindra 1991).